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Rückblick auf Vortragsabend mit Henning Scherf
Am 26. Februar war Henning Scherf, Bürgermeister a.D. der Hansestadt Bremen auf Einladung der Fachkoordination Älterwerden in Niederzwehren zu Gast in der Matthäuskirche. Mit freundlicher Genehmigung des Kasseler Sonntagsblattes veröffentlichen wir nun einen Artikel von Helga Kristina Kothe, der in der letzen Ausgabe des Sonntagsblattes erschienen ist.
"Brauchen keine Altengetthos"
Kassel. Keine Frage: Er hat Charisma. Dr. Henning Scherf, Bremens ehemaliger Bürgermeister, strahlt Vitalität und Lebensfreude aus. Er ist geradlinig und ehrlich, weltoffen und herzlich. Und der 77-Jährige SPD-Politiker ist ein Mann, der mit Verve über das spricht, was ihm am Herzen liegt: "Wohnen im Alter – gemeinsam statt einsam." Dafür reist er quer durch die Republik und machte jetzt in Kassel Halt.Wer ihm zuhört, merkt sofort: Scherf weiß, wovon er spricht. Er hat nicht nur viele Seniorenprojekte in Deutschland besucht. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie Wohnen in der zweiten Lebenshälfte funktionieren kann. Seit 28 Jahren lebt er mit seiner Frau und acht anderen in einer großen Wohngemeinschaft. Als sie sich dafür entschieden, waren sie noch nicht einmal 50. "Damals waren unsere drei Kinder gerade aus dem Haus. Wir haben überlegt, was nun? Warten bis die Kinder zurückkommen? Das sind sie bis heute nicht."
Da entstand die Idee, mit Freunden etwas für die zweite Lebenshälfte zu erschaffen. "Eine Wohn- und Lebensform zu entwickeln, die uns bis zum Tod zusammenhält." Vier Jahre haben die Planungen gedauert, bis ein altes Haus gefunden war, das für ihre Bedürfnisse umgebaut wurde.Natürlich seien die finanziellen Voraussetzungen unterschiedlich gewesen. Drei hätten sich den Kauf geteilt, die anderen sieben partizipierten als Mieter. Heute sei es abbezahlt, sodass nur noch die Nebenkosten und Rücklagen anstünden.
Jeder hat seine eigenen Räume, selbstverständlich mit Küche und Dusche. "Rückzug ist also gewährleistet", sagt Scherf mit einem Schmunzeln. Doch das Konzept basiert auf Gemeinsamkeit: Es gibt eine große Küche, wo regelmäßig zusammen gefrühstückt und reihum füreinander gekocht wird. Die Scherf-WG nutzt gemeinsam ein Auto, macht Ausflüge und Urlaube zusammen. Und selbstverständlich ist jederzeit Platz für Kinder und Freunde. So sei die Gemeinschaft auf mittlerweile Sechzig gewachsen. "Die Gemeinschaft hat einen gemeinsamen Freundeskreis geprägt."Selbstverständlich steht man in der Bremer WG auch in schweren Zeiten zueinander. "Sehr schwere Krankheit haben wir bereits nach wenigen Jahren erlebt", sagt Scherf. "Dann füreinander da zu sein, uns die Pflege zu teilen, das hatten wir einander versprochen." Eine solche WG sei aber auch in guten Tagen ein Geben und Nehmen und Unterstützung im Alltag.
Heute leben dort nicht nur Menschen im besten Alter. Aus den Anfangsjahren sind noch fünf mit von der Partie, freie Plätze in der alten Villa begehrt. Gäste aus Russland und der Westsahara waren eine Zeitlang da – "eine Bereicherung"."Natürlich ist ein solches Projekt visionär", sagt Scherf. "Unsere Kinder nannten uns damals postpubertäre Romantiker. Heute sind sie hundert Prozent überzeugt." Es gebe unglaublich viele Menschen, die sich für eine WG interessierten. Es gelte Partner zu mobilisieren und zu motivieren, zum Mitdenken und Mitmachen anzuregen. Und er macht Mut: "Wir sind nach 28 Jahren immer noch am Lernen und Ausprobieren. Und das ist auch gut so."
Zu wenige Wohnungen sind altersgerecht
Zur Situation in Deutschland sagte Scherf: Von rund 40 Millionen Häusern und Wohnungen seien nur rund 800.000 altersgerecht. "Das ist nicht viel." Die Mehrheit sei für Familien mit Kindern gemacht. "Wer will denn noch mit 80 die Treppen hoch und runter turnen?" Aus dieser kurzen Analyse leitet Scherf die Notwendigkeit eines großen, bedarfsgerechten Umbauprogramms ab, um einer altersdominierten Gesellschaft gerecht zu werden. Dass man dafür nicht alles neu machen muss, zeigen seine Ideen: Gewachsene Strukturen in Stadt- und Ortsteilen revitalisieren, Häuser, Wohnungen und Infrastrukturen an die Bedürfnisse Älterer anpassen. Ob kleines Lädchen, Treffpunkt oder ambulante Dienste: Sie sollen in ihrem Quartier finden, was sie für ihr Leben brauchen.Hier seien zum Beispiel Wohnungsbaugesellschaften gefordert. Seine Erfahrung: Sie sind auch Willens zu handeln. "Denn sie wissen: Ältere wollen bleiben, wo sie zuhause sind." Er kenne viele Beispiele erfolgreicher Konzepte, in denen Gemeinwesen und Nachbarschaft umgesetzt würden. Ihm liegt es am Herzen, Generationen zusammenzubringen. "Wir brauchen keine Altenghettos. Da müssen auch Kinder rumlaufen, die lauern, bis ich hingefallen bin", konstatiert Scherf.
Für ihn geht es um die Teilhabe älterer Menschen. "Die wollen etwas sehen, erleben, mitmachen. Langeweile ist der größte Alptraum des Alters. Angst zu haben, dass nichts mehr passiert." Das gelte auch für Pflegebedürftige. In Nordrhein-Westfalen habe er mehrere Pflegewohngemeinschaften kennengelernt, sogar darin gelebt. Sein Fazit: "Es ist doch auch bei Demenz viel spannender sein Süppchen nicht alleine zu essen."Helga Kristina Kothe
Foto: Henning Scherf und Fachkoordinator von FÄN Christof Dahl
Dr. Henning Scherf war zu Gast in der Kasseler Matthäuskirche im Stadtteil Niederzwehren. Eingeladen hatte die Fachkoordination Älterwerden in Niederzwehren (FÄN,) deren Träger unter anderem das Diakonische Werk Kassel ist.